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Literatura e Autoritarismo
          Sujeito, Memória e História
Capa | Editorial | Sumário | Apresentação        ISSN 1679-849X Revista nº 10 

DEUTSCHLAND, VOR 100 JAHREN:
GEBURT UND TOD DES LYRISCHEN ICH

Christoph Schamm1


Die Interpretation von lyrischen Texten gehorchte in den vergangenen einhundert Jahren immer wieder neuen Prinzipien: Hermeneutik, Formalismus und Strukturalismus, Literaturpsychologie und -soziologie, schließlich Kulturwissenschaften und Diskurstheorie – all diese Modelle haben unterschiedliche Auffassungen geprägt, wie sich der Sinn eines lyrischen Textes erschließen lasse. Der schnelle Paradigmenwechsel bewirkt, dass die Begriffe der Gedichtinterpretation ihre Gültigkeit meist bald wieder verlieren und durch neue ersetzt werden. Die große Ausnahme dieser Regel bildet das „lyrische Ich“. Seitdem Margarete Susman diesen Begriff vor gut einhundert Jahren eingeführt hat – wie man weiß, in der Studie Das Wesen der modernen deutschen Lyrik (1910)2 –, ist er eine feste Größe in lyriktheoretischen Studien und Gedichtinterpretationen geworden. Sofern nicht anders definiert, dient es zur Unterscheidung des textinternen vom textexternen Sprechersubjekt. Obwohl das lyrische Ich nicht selten kritisiert und in Frage gestellt worden ist, hat es bislang allen Angriffen widerstanden.3
Die Verfechter der Diskursanalyse bestreiten, dass eine Wirklichkeit unabhängig von sprachlichen Konstrukten denkbar ist.4 Wenn dem so ist, kann außerhalb des Gedichts kein Subjekt existieren, das darin seinen persönlichen Ausdruck sucht. Oder genauer: Zwar existiert ein empirischer Autor, er nimmt aber ausschließlich in seinem Text Konturen an, ist losgelöst von diesem daher uninteressant.5 Also wäre es völlig unnötig, zwischen einem textinternen und einem textexternen Ich zu unterscheiden, so dass das lyrische Ich sein Existenzrecht verloren hätte. Ist es dennoch sinnvoll, den Begriff weiter zu verwenden? Um diese Frage zu beantworten, soll zunächst auf den Bedeutungswandel der Kategorie „lyrisches Ich“ eingegangen werden, anschließend soll sie auf einen konkreten Gedichttext bezogen werden.
Im Gedicht, davon war Friedrich Hegel überzeugt, spricht der Autor selbst. Wenn wir ein Gedicht lesen, so lehrte uns die Hegelsche Ästhetik, hören wir die Stimme dessen, der es geschrieben hat. Es spricht weder ein Vermittler, wie der Erzähler im Roman, noch eine fiktive Figur wie der Protagonist eines Dramas. Selbst wenn der lyrische Dichter gelegentlich eine fremde Identität annimmt, bleibt er doch immer er selbst. In diesen Fällen verhält er sich wie ein Mensch, der sich verkleidet, um sich selbst auszudrücken. Nur weil er eine Maske aufsetze, verwandele er sich noch lange nicht in eine andere Person, erklärte Hegel in den 1820er Jahren.6
Seither hat das Verständnis der Lyrik als unmittelbarer Ausdruck von Innerlichkeit dauerhafte Wirkung auf die Rezeption dieser literarischen Gattung ausgeübt. Vor allem sein Einfluss auf die deutschsprachige Philologie kann überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden. So wären theoretische Ansätze, die Begriffen wie Erlebnis oder Stimmung eine zentrale Stellung zuordnen, ohne die Grundlage der Hegelschen Ästhetik schlichtweg unvorstellbar. Noch in den 1950er Jahren spricht Emil Staiger hinsichtlich der Lyrik vom Verschmelzen des Menschen mit der Natur7 und Käte Hamburger spricht dem Gedicht den Charakter des fiktionalen Werkes ab.8 Zur selben Zeit verwendet der Lyriker Gottfried Benn den Begriff des lyrischen Ich, indem er es als besondere Bewusstseinslage definiert, die dem poetisch veranlagten Menschen den Schaffensakt ermöglicht.9
Diese Stellungnahmen, die einander insofern gleichen, als sie den Autor und das Subjekt des Gedichts in eins setzen, dürfen keineswegs für naiv befunden werden. Doch befinden sie sich bereits zum Zeitpunkt ihres Entstehens im Widerstreit zu denjenigen theoretischen Ansätzen, die eine klare Grenze zwischen den beiden besagten Instanzen ziehen. Vermutlich erkennt Margarete Susman den Bruch zwischen Autor und lyrischem Ich deswegen so genau, weil sie die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik mit dem feinen Gespür der Dichterin begleitet. Im München der Jahrhundertwende steht sie im Kontakt mit Stefan George und anderen schillernden Figuren der Schwabinger Boheme. Die Texte der Symbolisten lassen erkennen, dass die Lyriker als ingeniöse Sprachalchimisten und Klangmagier wirken möchten, aber keineswegs den unmittelbaren Ausdruck ihrer selbst anstreben.10 Die Folgegeneration, die der Expressionisten, kehrt wieder zu einem konkreteren Vokabular zurück. Mit kräftigen Pinselstrichen malen die Lyriker das Szenario der modernen Großstadt mit ihren Straßenbahnen, Nachtklubs und Armenvierteln ebenso wie die traumatischen Bilder des Grabenkrieges der Jahre 1914–18. Jedoch ist offensichtlich, dass wir in den Gedichten jener Autoren vergebens nach dem Subjekt suchen, das gemäß hegelianischer Tradition harmonisch mit seinem Umfeld eins wird.
Häufig heißt es, der Lyriker Jakob van Hoddis habe mit seinem kurzen Gedicht Weltende praktisch aus Versehen den literarischen Expressionismus in Deutschland begründet. Im Grunde wollte er im Januar 1911 lediglich satirische Kritik an der europäischen Presse üben, die im Erscheinen des Halleyschen Kometen eine Bedrohung für die Menschheit sah. Sein Text erschien in der Berliner Zeitschrift namens Der Demokrat und entwickelte sich in den Folgejahren zu einem prototypischen Modell der Avantgarde-Lyrik.

Jakob van Hoddis
Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.11

Das Sprechersubjekt des Gedichts tritt nicht als explizites lyrisches Ich zutage. Statt seine eigene Person zu thematisieren, zählt es einige Auswirkungen einer Naturkatastrophe auf, zu denen es entweder überhaupt kein oder ein ziemlich zynisches Verhältnis hat: Von Eisenbahnunglücken und anderen Unfällen mit tödlichem Ausgang spricht es mit demselben Gleichmut wie von verlorenen Hüten und verschnupften Nasen. Van Hoddis´ Text stellt beide Parteien der lyriktheoretischen Debatte vor handfeste Probleme: Den Hegelianern fällt es schwer, ihn als Ausdruck der authentischen Innerlichkeit seines Autors zu begreifen. Das Sprechersubjekt distanziert sich allzu sehr vom Gegenstand seiner Rede. Wer hingegen „Anti-Hegelianer“ ist, also für eine Trennung von realem und lyrischem Ich eintritt und das letztere für das spezifische Merkmal eines Gedichts erachtet, der muss sich mit der Tatsache abfinden, dass es in diesem Fall keine Formen der ersten Person Singular gibt. Margarete Susman hatte ausgeführt, dass sich die Person des Autors und das Sprechersubjekt zueinander verhielten wie die Larve zum Schmetterling.12 Offenbar geht sie von keiner tatsächlichen Trennung eines fiktiven von einem realen Ich aus; sie nimmt vielmehr an, dass das Subjekt des Gedichts eine sublime Form des Dichters selbst verkörpere. Im vorliegenden Fall allerdings würde sich die Larve einfach in nichts verwandeln. . .
Stimmt es, dass es in Gedichten ohne Formen der ersten Person Singular kein lyrisches Ich gibt? Sicherlich ist es nicht so einfach. Jakob van Hoddis´ Versuch, die unverstellte Innerlichkeit durch eine ironische Sicht der Außenwelt zu ersetzen, ist zweifellos interessant. Man beachte etwa den vierten Vers, wo er die erste Person umgeht, indem er die unpersönliche Formulierung „liest man“ verwendet. Aber gewinnt sein Text nicht gerade durch das Bemühen, alles Persönliche zu unterdrücken, an Originalität und damit an Subjektivität? Das lyrische Subjekt in Weltende spricht einerseits von Eisenbahnen voller lebender Menschen, die von Brücken herabstürzen und zerbersten, als wären sie Kinderspielzeug; spricht von Dachdeckern, die vom Dach fallen und sterben wie von Gegenständen, die kaputtgehen. Andererseits betrachtet es den Schnupfen der „meisten Menschen“ als Faktum, das es verdient, gemeinsam mit derlei Katastrophen in einem Atemzug erwähnt zu werden. Mit dem expliziten Ich entzieht van Hoddis seinem Gedicht das Zentrum, das alle subjektiven Empfindungen und Ansichten auf sich versammeln würde. Gerade dadurch schafft er jedoch die angemessene lyrische Ausdrucksform für das verstörte Bewusstsein des modernen Menschen.
So stellt Jakob van Hoddis im Januar 1911 das lyrische Ich in Frage, noch ehe es im selben Jahr in der theoretischen Studie Margarete Susmans das Licht der Welt erblicken wird. Zugleich begründet er eine neue Form der Subjektivität, die sich von seiner individuellen Person ablöst und, als scheinbare Objektivität, zu einem bestimmenden Merkmal des modernen literarischen Diskurses wird. Nicht der prononcierte Gebrauch der ersten Person Singular ist es, der das Gedicht als solches kennzeichnet; stattdessen ist es die sprachliche Originalität, die in keiner anderen Textform so deutlich zum Vorschein kommt wie in der Lyrik. Dieses subjektive Spiel mit den Worten verwandelt das Gedicht in ein selbstgenügsames und autoreferenzielles Kunstwerk, das sich von Erzählungen und Dramen ebenso unterscheidet wie von jedem nichtliterarischen Text.13
Die Schicksale Margarete Susmans und Jakob van Hoddis´ waren so gegensätzlich, wie es nur bei zwei Angehörigen der jüdischen Religion im Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein konnte: Sie starb 1966 in Zürich, wo sie ihre Exilheimat gefunden hatte, er wurde 1942 im Konzentrationslager Sobibór ermordet. Alle beide jedoch vermochten unseren heutigen Begriff des lyrischen Gedichts maßgeblich zu beeinflussen.


Literaturverzeichnis

BENN, Gottfried „Probleme der Lyrik“. In: Sämtliche Werke. Stuttgart: Klett-Cotta, vol. 6, p. 9–44.
BURDORF, Dieter. Einführung in die Gedichtanalyse. 2. ed. Stuttgart: Metzler, 1997.
FRIEDRICH, Hugo. Die Struktur der modernen Lyrik: von Baudelaire bis zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1956.
HAMBURGER, Käte. Die Logik der Dichtung. 2. ed. Stuttgart: Klett, 1968.
HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich. Vorlesungen über die Ästhetik (Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden, hrsg. von Hermann Glockner). Stuttgart: Frommann, 1928. vol. 14.
HODDIS, Jakob van. „Weltende“. In: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus (hrsg. von Kurt Pinthus). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1956. p. 39.
JAHRAUS, Oliver. Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen/Basel: Francke, 2004.
JAEGLE, Dietmar. Das Subjekt im und als Gedicht. Eine Theorie des lyrischen Text-Subjekts am Beispiel deutscher und englischer Gedichte des 17. Jahrhunderts. Stuttgart: M & P, 1995.
KAMMLER, Clemens. „Historische Diskursanalyse (Michel Foucault)“. In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung (hrsg. von Klaus Michael Bogdal). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005, p. 32-56.
MÜLLER, Wolfgang G. „Das Problem der Subjektivität in der Lyrik und die Dichtung der Dinge und Orte“. In: Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung (hrsg. von Ansgar Nünning). Trier: WVT, 2004. p. 93-106.
SCHMITZ-EMANS, Monika. Die Sprache der modernen Dichtung. München: Fink, 1997.
SPINNER, Kaspar H. Zur Struktur des lyrischen Ich. Frankfurt am Main: Akademische Verlagsgesellschaft, 1975.
STAIGER, Emil. Grundbegriffe der Poetik. 6.ed. Zürich/Freiburg: Atlantis 1963.
SUSMAN, Margarete. Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart: Strecker & Schröder, 1910.

1 Lektor des DAAD, Dozent an der UFRGS im Bereich Germanistik
2 vgl. SUSMAN 1910.
3 Die „Karriere“ des Begriffes „lyrisches Ich“ beschreibt detailliert D. Jaegle (vgl. JAEGLE 1995)
4 Zur Diskursanalyse im Allgemeinen vgl. KAMMLER 2005 und JAHRAUS 2004, p. 331.
5 vgl. MÜLLER 2004, p. 94.
6 vgl. HEGEL 1928, p. 432-433.
7 vgl. STAIGER 1963, p. 62.
8 vgl. HAMBURGER 1968, p. 221.
9 vgl. BENN 2001, p. 25.
10 Ich beziehe mich auf H. Friedrichs noch immer sehr wertvolle Charakteristik der modernen Lyrik aus den 1950er Jahren (vgl. FRIEDRICH 1956).
11 Van HODDIS 1956.
12 vgl. Susman 1910, S. 19.
13 Zur Problematik des Begriffes „lyrisches Ich“ vgl. BURDORF 1997, S. 182-193 und Schmitz-Emans 1997, S. 170-173.
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